Frau Dr. Neumann, wie ist es um die psychische Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen in der Region nach mehr als zweieinhalb Jahren Pandemie bestellt? Nehmen psychische Erkrankungen zu?
Ich beobachte in der Praxis weniger eine Steigerung psychischer Erkrankungen, sondern vielmehr eine Verschiebung der Krankheitsbilder. Die nach innen gerichteten Krankheiten wie Essstörungen, Ängste, Zwänge und Depressionen haben deutlich zugenommen. Störungsbilder, die nach außen gerichtet sind, wie beispielsweise aggressives Verhalten, sind hingegen nicht gestiegen. Zudem sind insgesamt häufiger Mädchen als Jungen betroffen. Jungen stecken die Pandemie anscheinend deutlich besser weg als gleichaltrige Mädchen.
Woran liegt es, dass Corona eher Auswirkungen auf Mädchen als auf Jungen hat?
Jungen haben häufig bessere Bewältigungsstrategien als Mädchen: In vielen Fällen bewegen sie sich mehr als die Mädchen, bauen damit Stress und Unsicherheiten ab. Zahlreiche Mädchen bewältigen ihre Probleme eher, indem Sie ihre Nahrungszunahme kontrollieren oder Zwänge entwickeln.
Wie hängen denn gestörtes Essverhalten und Zwänge mit der Pandemie zusammen?
Corona hat uns gezeigt, dass wir nicht alles kontrollieren und Dinge passieren können, mit denen keiner von uns gerechnet hat – das kann ganz schön Angst machen! Vor allem jungen Menschen, die es bisher gewohnt waren, dass alles immer in geregelten Bahnen läuft. Wenn eine Person eine Essstörung wie beispielsweise Anorexia nervosa (Magersucht, Anm. d. Red.) entwickelt, dann hat sie die Zuführung von Kalorien und Nahrung vermeintlich selbst in der Hand. Das schafft ein Gefühl von Kontrolle und kann als Bewältigungsstrategie dienen, um mit Unsicherheit und Angst umzugehen. Gleiches gilt für die Entwicklung von Zwängen, auch hier werden Kontrollmechanismen eingesetzt.
Wie ist der Rhein-Kreis Neuss aufgestellt, um Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen wie Essstörungen, Ängsten oder Zwängen zu unterstützen?
Das Angebot für die Behandlung von leichten Verläufen ist in Ordnung. Es stehen Jugendhilfe-Einrichtungen auch mit ambulanten Angeboten sowie niedergelassene Kinder- und Jugendpsychotherapeuten vor Ort zur Verfügung. Alternativ können auch die beiden Ambulanzen für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Alexius/Josef Krankenhauses aufgesucht werden. Hier sind die Wartezeiten mit sechs bis zehn Wochen oft deutlich kürzer als bei den niedergelassenen Kollegen.
Wie gehe ich vor, wenn ich für mein Kind das Unterstützungsangebot in Anspruch nehmen möchte?
Neumann: Zunächst benötigen Sie eine Überweisung des Kinderarztes. Wenn diese vorliegt, können Sie telefonisch einen Termin mit uns vereinbaren. Vor Ort wird dann eine umfängliche Diagnostik durchgeführt, es werden Empfehlungen für den weiteren Behandlungsverlauf besprochen und – wenn notwendig – unterstützende Gespräche im Abstand von vier bis fünf Wochen angeboten. Zusätzlich bieten wir bei Bedarf auch eine medikamentöse Behandlung an.
Und was, wenn mein Kind wirklich schwer krank ist und stationären Support benötigt?
Für akute Krisen und schwere Krankheitsverläufe gibt es lediglich ein einziges Angebot und dieses ist dazu leider ziemlich weit weg – in Viersen-Süchteln. Dort kann es sein, dass die Plätze alle belegt sind, und Sie mehrere Monate warten müssen, bis Ihrem Kind geholfen wird. Diese Situation finde ich persönlich absolut unbefriedigend und sehe dringenden Handlungsbedarf. Wir brauchen unbedingt ein stationäres Angebot für Kinder und Jugendliche in Neuss! Es kann nicht sein, dass wir unserem Nachwuchs keine adäquate Versorgung vor Ort anbieten können. Vor allem, weil in jungen Jahren die Heilungsaussichten exzellent sind – allerdings nur, wenn wir rechtzeitig behandeln. Das Gehirn ist dann sehr stark in Bewegung und kann durch die richtigen Interventionen positiv verändert werden.
Gibt es konkrete Warnzeichen, die mir frühzeitig aufzeigen, dass mein Kind psychische Probleme haben könnte?
Wenn ein echter Leistungsknick in der Schule erfolgt, dann sollten die Alarmglocken angehen. Ich spreche hier nicht von leichten Verschlechterungen der schulischen Leistungen bei Jugendlichen – das ist vollkommen normal. Wenn die Noten aber komplett in den Keller rauschen, dann sollte man da sehr genau hinschauen. Oder auch, wenn sich Ihr Kind plötzlich sehr stark sozial zurückzieht, obwohl es bisher sehr gesellig und viel mit Freunden unterwegs war.
Was kann ich in solchen Fällen als Erwachsener tun?
Wenn möglich, sprechen Sie zeitnah mit Ihrem Kind über Ihre Beobachtungen und Bedenken. Suchen Sie frühzeitig Unterstützung bei geschulten Personen. Wir sind gerne für Sie da und gehen den Weg mit Ihnen und Ihrem Kind zusammen. An dieser Stelle möchte ich aber auch an das Verständnis und die Solidarität unserer Gesellschaft plädieren. Wenn ein Elternteil selbst belastet durch psychische Problemen, Ängste oder Geldsorgen ist, wird es sehr schwierig, ausreichend Kraft und Energie aufzubringen, um das eigene Kind zu unterstützen. Hier sind dann beispielsweise hilfsbereite Nachbarn, Lehrer oder auch Kinderärzte gefragt, die auf Hilfsangebote hinweisen. Und auch die Medien, die Aufklärungsarbeit leisten und klar hervorheben, dass psychische Erkrankungen jeden treffen können – genau wie eine körperliche Erkrankung. Es ist an der Zeit, dass wir offener und regelmäßiger über psychische Erkrankungen und vorhandene Hilfsangebote sprechen. Denn Reden kann im Zweifel Leben retten!